Presse
Artikel in ARTMAPP, Sommer 2019
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Die Rauminstallationen Hanna Roeckles erinnern auf den ersten Blick oft an minimalistische Kavernen: Kristalline Formen sprießen aus dem Boden und den Wänden und faszinieren mit einem changierenden Spiel der Farben. Verzaubert und fast fremdgesteuert ähneln sich die Reaktionen auf die Skulpturen der Schweizer Künstlerin: Nach einem Augenblick der Irritation beginnen die meisten Betrachterinnen und Betrachter damit, sie langsam und andächtig zu umkreisen und sich aktiv mit den Werken, aber auch dem umgebenden Raum und den eigenen Beobachtungen auseinanderzusetzen. Automatisches Sehen wird in der Begegnung mit diesen Skulpturen zur bewussten Wahrnehmung – so verschafft Hanna Roeckle ihrem Publikum Momente der Reflexion und Einlassung, die in der Schnelllebigkeit des heutigen Alltags eine Rarität bedeuten.
In Vaduz/Liechtenstein geboren und heute in Zürich in der Schweiz lebend, entwickelte Hanna Roeckle seit den 1990er-Jahren eine Formensprache, die genuin und unverwechselbar ist. Die Künstlerin denkt nach eigener Aussage in Systemen, sie bevorzugt komplexe Ordnungen und ein Spiel nach klar definierten Regeln gegenüber der spontanen Geste. Das herausragende Merkmal dieser Systeme besteht in ihrer Modularität – wir begegnen in Hanna Roeckles Werk einem Vokabular an Grundelementen und Formen in immer wieder neuer Variation.
Hanna Roeckle arbeitet jenseits aller klassischen Gattungsbegriffe. Je nach Standpunkt lassen sich manche ihrer Wandarbeiten als Bild oder Plastik deuten und die serielle Kombination mehrerer Werke verwandelt die Einzelstücke in eine Rauminstallation. So entstehende Gesamtkompositionen verändern sowohl die Wahrnehmung als auch das Wahrgenommene: Die individuellen Teile wirken plötzlich als Ganzes, ihre Farben und Formen beginnen miteinander zu interagieren. Bekannte Settings erscheinen als Environments, in denen eine gewohnte Umgebung plötzlich Teil eines Kunstwerks wird und sich so die Sphären von Kunst und Alltag neu durchdringen.
Hanna Roeckles Werke entstehen nicht isoliert von äußerlichen Einflüssen. Mit großem Interesse verfolgt die Künstlerin die wissenschaftliche Forschung, besonders in den Bereichen der Molekularbiologie, Glasfaseroptik und Tiefseeforschung. Auch die Mineralogie und Geometrie inspirieren ihren künstlerischen Schaffensprozess. So entwickelte sich manche Form aus Kaleidoskopbildern von Kristallen und auch die Farbgebung der Arbeiten Hanna Roeckles ist oft von natürlichen Vorlagen abgeleitet. In der Rezeption durch die Betrachter spielen diese gegenständlichen Bezüge allerdings keine Rolle mehr. Hier legt Hanna Roeckle mehr Wert auf die sinnliche Ausstrahlung und materielle Form der Werke sowie auf die darin angelegten Möglichkeiten zur persönlichen künstlerischen Weiterentwicklung als auf die Vermittlung einer eindeutigen, intellektuellen Botschaft.
Zur vollen Entfaltung kommen solch sinnliche Erfahrungen im Falle von Hanna Roeckles skulpturalen Arbeiten – den an Kristalle und Quarze erinnernden „Polyedern“, „Pyriten“, „Stelen“ oder auch den „Rosetta“-Wandobjekten, die zuletzt in der Einzelausstellung „Configurations in Flow“ in den BEGE Galerien in Ulm zu sehen waren. Diese aus GFK oder SWISSCDF gefertigten und mit Lack gespritzten Skulpturen bieten dem Betrachter ein visuelles Erlebnis, das ihn aktiv miteinbezieht, denn je nach Blickwinkel und Standort verändert sich die Farbe der Oberflächen. Dieser Effekt beruht auf der Verwendung von dichroitischem Lack, dessen Töne Hanna Roeckle eigens für ihre Werke nach ihren Vorgaben entwickeln und mischen lässt.
So zeitlos ihre schlichten geometrischen Formen auch wirken, so sehr sind sie doch ein Ausdruck unserer Zeit: Der heute viel beklagten Reizüberflutung, der optischen Umweltverschmutzung, tritt Hanna Roeckle mit sensiblen künstlerischen Formulierungen entgegen. In ihrem Werk trifft reine Farbe auf konkrete Form. Die Beschränkung auf monochrome oder wenige, meist klar voneinander abgegrenzte Farbflächen bildet einen Kontrapunkt zur grellen Buntheit der Plakat- und Konsumwelt. An die Stelle expressiver Gesten setzt die Künstlerin subtile Farbeffekte, deren Reiz sich erst auf den zweiten Blick und im Zusammenspiel mit Licht entfaltet. Roeckles Skulpturen, Objekte und Installationen können als Untersuchungen zu Licht, Bewegung und Raum gewertet werden. Die Künstlerin studiert das Zusammenspielspiel und die Wirkung dieser drei Komponenten unter der kalkulierten Einbeziehung des Betrachters. Dieser wird mit immateriellen, ephemeren Phänomenen konfrontiert: Der Betrachter, der sich durch den Raum bewegt, erlebt die Licht reflektierenden Oberflächen der Arbeiten als sich permanent wandelnde Farbflächen, als dynamische Energiefelder, was den Ausstellungsbesuch zu einem ästhetisch-visuellen Ereignis werden lässt. Roeckles Werke verwandeln ihre Umgebung. Sie schaffen im wahrsten Sinne des Wortes Raum für Imagination und Kontemplation, eine neue Bewusstseinszone der Sensibilität.
Daniela Baumann
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