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aus dem Jahrbuch Winterthur 2019 …
Nicola Grabiele (*1965) wuchs als Sohn kalabrischen Einwanderer in Winterthur auf. Seine Kindheit war geprägt von der südländischen Herkunft seiner Eltern. Das Künstlerdasein wurde ihm nicht in die Wiege gelegt. Bevor er seiner Berufung als Maler folgte, absolvierte er eine Lehre in einem technischen Zeichenberuf. Die Erinnerungen aus seiner Kindheit dienen ihm seit Anbeginn seiner künstlerischen Karriere als wichtige Ressource. In seinen neueren Werken nimmt das farbige Licht als Reminiszenz an die südliche Landschaft und Wärme eine zentrale Rolle ein.
Die grüne Kiste, in der seine Eltern Anfang der sechziger Jahre all ihr Hab und Gut in die Schweiz brachten, steht heute noch im Atelier von Nicola Grabiele, das sich im Erdgeschoss der oxyd Kunsträume befindet. Die grüne Kiste ist mehr als nur ein nostalgisches Erinnerungsstück, das in Ehren gehalten wird. Sie ist Sinnbild seiner Herkunft, aus der er seine Inspiration schöpft: Immer wieder aufs Neue befördert ihn die Kiste in Gedanken zurück zu seinen Wurzeln, die im italienischen Süden liegen, der sich hinsichtlich Mentalität, Sprache, Kulinarik, Landschaft und Religion gänzlich von Winterthur unterscheidet.
Nicola Grabiele kam in Winterthur zur Welt. Im elterlichen Haushalt gehörte die italienische Sprache und die italienische Küche zum Alltag. An Familienfesten und katholischen Feiertagen ging es bei den Italienern bunt zu und her, so jedenfalls lautete das damalige Klischee. Die italienischen Einwanderer wurden von der Schweizer Bevölkerung als fremd empfunden, nicht nur wegen der Sprache, ebenso wegen ihres Temperaments. In Winterthur gehörte Nicola Grabiele einer kulturellen wie konfessionellen Minderheit an, die der Schweizer Volksmund damals despektierlich als «Tschingge» bezeichnete. In Kalabrien erfuhr er seine Italianità hingegen als Selbstverständlichkeit. Es verwundert deshalb nicht, dass seine emotionale Heimat im Süden liegt. Nebenbei bemerkt: Oft hört Grabiele während seiner Arbeit im Atelier italienische Cantautori wie Lucio Dalla.
Die Italianità ist ein wesentlicher Teil seiner Identität, die sich in seinem Œuvre widerspiegelt. Anfangs seiner künstlerischen Laufbahn setzte er sich mit menschlichen Beziehungen auseinander: familiäre, freundschaftliche und erotische. Er hielt Freunde, Bekannte und Familienmitglieder in Einzelporträts fest, setzte sich mit der Faszination des weiblichen Körpers auseinander und schuf eine eindrückliche Werkreihe dem Thema «Tavolata» – die Tischgemeinschaft als Metapher für Gastfreundschaft und Zusammenhalt. Den katholischen Hintergrund behandelte der Künstler in einer Serie von abstrahierten Madonnen-Bildern und einem zeichnerischen Zyklus zur Via Dolorosa. Dabei ging es ihm nicht um eine Stellungnahme pro oder contra Religion, sondern um die Beschäftigung mit der süditalienischen Frömmigkeit, die ihn schon im Kindesalter beeindruckt hatte.
Um 2009 zeichnete sich in der Malerei von Nicola Grabiele die Ablösung von der Figuration ab. Menschenleere Innenräume wie auch Aussenräume rückten in sein Blickfeld. Die Hinwendung zum (leeren, offenen, weiten) Raum als das, was den Menschen umgibt, ging einher mit einer zunehmenden Abstrahierung des Gegenständlichen sowie einer starken Reduktion der Tiefenräumlichkeit, so dass der Raum bzw. die stilisierte Landschaft als Fläche wiedergegeben wird. Die zwischen 2012 bis 2016 entstandenen Gemälde bestehen in der Regel aus grosszügigen, aneinanderstossenden Farbflächen. Die darin eingeschriebenen grafischen Elemente und die Werktitel in italienischer Sprache liefern den Schlüssel zur Deutung: Die Bilder enthalten des Künstlers persönliches Glücksempfinden angesichts der südlichen Landschaft. Bildtitel wie «In mezzo a questo mare» (2012) oder «Faro» (2016) lassen darauf schliessen, dass diese Werke Erinnerungen und Empfindungen abbilden. Der Entstehungsprozess schafft die Möglichkeit, diese glücklichen Momente intensiv nachzuerleben, sich von sinnlichen Assoziationen wie Wellenschlag, Wind und dem Geruch von salziger Luft und trockener Erde leiten zu lassen.
Die in satten, jedoch unaufdringlichen Farben bemalten Werke entstehen nicht alla prima, als Notate einer spontanen Eingebung, sondern in einem langwierigen Arbeitsprozess. Nicola Grabiele übermalt seine Leinwände meist mehrmals und belässt die unteren Schichten oft nur als minimale Aussparung sichtbar. Durch die mehrmalige Überarbeitung verdichtet er den Bildinhalt. Er destilliert die Erinnerung zur Essenz. Bilder wie «Oro del sud» (2013) und «Paesaggio» (2015) strahlen Ruhe und Gelassenheit aus – sie vermitteln die Erfahrung gedehnter, schier unendlicher Zeit, wie man sie nur während ausgedehnten Ferien oder in selbstvergessenen, schöpferischen Momenten erlebt.
In seiner neusten Schaffensphase übersetzt Nicola Grabiele die in der Erinnerung abgerufene Landschaft in horizontal geschichtete, aus unterschiedlich breiten und verschieden farbigen Streifen aufgebauten Kompositionen, die ohne deskriptiv-grafische Elemente auskommen. Auch wenn Süditalien weiterhin Pate für seine Bildfindungen steht, so löst sich Nicola Grabiele seit 2016 immer stärker vom «Naturvorbild», um in den Bereich der reinen, autonomen Malerei vorzustossen und um die koloristischen Qualitäten auszubauen. Die Loslösung vom Gegenstand und der Tiefenräumlichkeit führt dazu, dass die Farbe nun als Klang und Variation wahrgenommen wird. Bezeichnenderweise steht am Anfang dieser künstlerischen Weiterentwicklung eine monumentale Kunst am Bau-Arbeit, die Nicola Grabiele 2016 für die Sporthalle 194 auf dem Lagerplatz Winterthur entworfen hat, dem sogenannten «Südfenster». Das gleichmässige Raster aus verschiedenfarbigem Glas bildet auf originäre Art und Weise die verschwundene Fassadengestaltung ab: So werden die einstigen Türen durch tiefblaue Flächen, die frühere Backsteinwand durch gelbe, die ehemalige Wellblechverschalung durch dunkelrosa Farbflächen und das ursprüngliche, kleine Fenster wird durch Klarglas markiert. Der die Halle umgebende Aussenraum wird durch zartes Himmelblau angedeutet. Je nach Sonnenstand verändern sich der Lichteinfall und die Farbintensität im Innenraum.
Mit dem «Südfenster», das an eine farbenfrohe Kachelwand erinnert, erschloss sich Nicola Grabiele ein neues Tätigkeitsfeld: Die Malerei auf Glas. Die Arbeit zog die Aufmerksamkeit des Winterthurer Architekturbüros Hinder Kalberer auf sich. Dieses war mit der Sanierung des neuapostolischen Kirchenzentrums an der Wülflingerstrasse beauftragt worden und fragte dieser Funktion den Künstler an, ob er sich für die Gestaltung der Kirchenfenster interessiere. Nicola Grabiele wusste mit seinen Vorschlägen und Entwürfen seine Auftraggeber zu überzeugen, nicht zuletzt deshalb, weil er die vier schmalen, rund 4,6 m hohen und 1,6 m breiten Fenster als ein grosses Bild interpretierte. Seine Glasmalerei bildet aufgrund ihrer horizontalen Ausrichtung und ihrem inneren, dunkelblau gemalten Rahmen eine Art Gegengewicht zur vertikalen Unterteilung der westlichen Fensterfront und der himmelsstrebenden Architektur.
Von Beginn an stand der Entschluss fest, in und mit den Fenstern keine Geschichte zu erzählen, sondern diese vielmehr für die Geschichten der Kirchgänger zu «öffnen» und die Welt – das Diesseits und das Jenseits umfassend – als Ganzes abstrakt zum Ausdruck zu bringen. In den anfänglichen Aquarellskizzen behandelte der Künstler jedes Fenster noch als separate Gestaltungsfläche. Das ganze Entwicklungsprozedere von der ersten Ideenskizze bis zur Ausführung dauerte eineinhalb Jahre. Es resultierten daraus unzählige Skizzen, Aquarellstudien und Materialproben. In dieser Zeit entstand u.a. das kleine Bild «La finestra del treno», das den abstrahierten Ausblick aus einem breiten Zugsfenster auf das scheinbar unendliche Meer wiedergibt und hinsichtlich des Aufbaus den gestalteten Fenstern stark gleicht – mit einem frappanten Unterschie: Im Fokus des sakralen Kunstwerkes steht nicht das tiefblaue Meer, sondern das in hellem, warmem Gelbton erstrahlende Licht als Metapher für das Göttliche. Im Grunde genommen ist jedoch auch dieses Opus Magnum eine Reminiszenz an den Süden, indem es die Farben von Himmel, Meer, trockener Erde bzw. Sand und Sonne enthält. Darüber hinaus verbindet es Irdisch-materielles mit Überirdisch-immateriellem.
Im Gegensatz zu traditionellen, in Bleiruten gefassten Glasfenstern liegt diesem Glasgemälde ein vom Künstler eigenhändig ausgeführtes Bild zugrunde, das gescannt und anschliessend auf farbechte Folie, die zwischen zwei Glasscheiben eingeschweisst wurde, gedruckt wurde. Herausgekommen ist ein lebendiges, entlang des Pinselduktus vibrierendes Gemälde in hellleuchtenden, lichtdurchflutenden Farben, das Grosszügigkeit, Weite und Wärme ausstrahlt.
Nicola Grabiele schreibt mit seinem eindrücklichen Werk die lange, mit dem Bau gotischer Kathedralen einsetzende Tradition bunter Sakralfester mithilfe modernster Technologie ins 21. Jahrhundert fort. In Winterthur gibt es zudem hochkarätige Sakralfenster aus dem 20. Jahrhunderte wie jene von Ferdinand Gehr (1896-1996) in den kath. Kirchen St. Urban und St. Laurentius, jene von Giuseppe Scartezzini (1895-1967) in der kath. Herz Jesu Kirche und jene von Hans Affeltranger (1919-2002) in der Kapelle Rossberg und in der ref. Kirche Rosenberg. Bemerkenswert sind auch die filigranen Glasmalereien von Robert Wehrlin (1903-1964) in der ref. Kirche Elsau, um nur einige herausragende Beispiele zu nennen.
Lucia Angela Cavegn
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